Friedel Friedrichs im Gespräch mit Dr. Dirk Dammann, Chefarzt der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Holzminden
Kinder- und Jugendhilfe sowie die Kinder- und Jugendpsychiatrie sind zwei verschiedene, aber eng miteinander verbundene Bereiche im Gesundheits- und Sozialwesen. Beide haben das gemeinsame Ziel, das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen zu fördern und ihre psychische Gesundheit zu unterstützen. Oft arbeiten Fachleute aus beiden Bereichen zusammen, um eine umfassende Betreuung sicherzustellen. Es gibt auch Situationen, in denen es Übergänge zwischen den beiden Bereichen gibt. Ein Kind, das zunächst in der Kinder- und Jugendhilfe betreut wurde, kann bei Bedarf an die Kinder- und Jugendpsychiatrie überwiesen werden, insbesondere wenn ernsthafte psychische Gesundheitsprobleme auftreten.
Die Verbindung zwischen Kinder- und Jugendhilfe sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie variiert je nach Land, Region und den spezifischen Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens. In vielen Fällen ergänzen sich jedoch die beiden Bereiche, um eine umfassende Unterstützung für Kinder und Jugendliche sicherzustellen und ihre individuellen Bedürfnisse bestmöglich zu adressieren.
Friedel Friedrichs, Regionalleitung für ambulante Hilfen bei LOOP, ist nach Holzminden in Niedersachsen gefahren, um mit Dr. Dirk Dammann, dem Chefarzt der dortigen Kinder- und Jugendpsychiatrie, zu sprechen. Wie hat sich Corona auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt? Was konnten Kliniken, Träger und Jugendämter lernen? Und wer sind die wirklichen Verlierer der Pandemie?
Das Albert-Schweitzer-Therapeutikum ist eine Fachklinik mit Institutsambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie und – Psychotherapie. Behandelt werden Kinder und Jugendliche bis zu 18 Jahren (ggf. auch darüber hinaus) aus Holzminden und der näheren und weiteren Umgebung mit sämtlichen psychischen bzw. psychiatrischen Auffälligkeiten. Hierzu gehören u.a. depressive Störungen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Anpassungsstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen mit und ohne Hyperaktivität, aggressive Verhaltensauffälligkeiten, posttraumatische Belastungsstörungen, psychosomatische Störungen und Entwicklungsstörungen.
[Darüber hinaus gibt es] […] eine umfassende Diagnostik insbesondere bei Verdacht auf Autismus-Spektrum-Störungen, hyperkinetischen Störungen und Teilleistungsstörungen […].
Quelle: https://www.familienwerk.de/einrichtungen/klinik-holzminden/
Die Klinik ist von der DGSF (deutsche Gesellschaft für systemische Familientherapie) zertifiziert und die Mitarbeitenden nehmen regelmäßig an entsprechenden internen Weiterbildungen teil.
Friedrichs: Was hat sich seit der Pandemie geändert? Und was ist geblieben wie es war?
Dr. Dammann: Wir sehen mehr Patienten und kränkere Patienten. Für unseren Alltag kann man aber sagen: Wahnsinnig viel hat sich nicht geändert. Es gibt ein paar Dinge, die wir überall merken, dass wir plötzlich unsicher sind, ob wir jemanden mit Handschlag begrüßen dürfen oder nicht, oder bei den Jugendlichen, die vielleicht sowieso schon Schwierigkeiten mit Nähe und Distanz haben. Einige Menschen mit einer Autismus Spektrum Störung (ASS) finden es, glaube ich, ganz angenehm, dass man sich noch mit diesem Faustschlag begrüßt und sich nicht die Hand gibt. Das ist ein bisschen bunter geworden, nicht mehr so einheitlich, vielleicht kommen wir da nie zurück in die alte Struktur.
Wir haben inzwischen mehr Mitarbeiter, aber das hat nichts mit der Coronapandemie zu tun, sondern mit der neuen Personalverordnung die wir seit einiger Zeit haben. Gleichgeblieben sind die vielen Besonderheiten, die uns ausmachen, unser parkähnliches Gelände, die Weitläufigkeit, hintenrum der Bach. Wir haben eine Halle für tiergestützte Therapie, das läuft ausgesprochen gut. Dort arbeiten wir momentan mit zwölf Pferden. Es gibt fünf Hunde auf dem Gelände, meinen bringe ich manchmal auch mit. Wir haben eine Atmosphäre die man, glaube ich, so anderswo nicht so einfach findet.
Friedrichs: Was hat die Zeit mit den Mitarbeitenden gemacht?
Dr. Dammann: Die Corona-Pandemie war für uns eine Phase einer skurrilen Unterbrechung. Das fing damit an, sehr abrupt wie für alle damals, dass der Lockdown kam und wir von jetzt auf gleich einen Großteil der Patienten entlassen mussten. Und plötzlich standen wir hier mit nur noch zehn oder elf Patienten. Die Tagesklinik war von jetzt auf gleich ebenfalls dicht.
Friedrichs: Ganz zu?
Dr. Dammann: Ja, ganz zu. Aber, und das ist auch ein Vorteil von so einer kleinen Klinik, wir haben extrem kurze Entscheidungswege gehabt. Wir haben keine 48 Stunden gebraucht, da hatten wir die Rechner mit Kameras und Lautsprechern ausgestattet. Dann brauchten wir noch ein zertifiziertes Video-System. Alles in allem hat es ca. 2 Wochen gedauert, dann hatten wir funktionierende Online-Systeme. Wir haben zum Glück vorher schon technisch Gas gegeben, deshalb hatten wir schon Glasfaserinternet und zum großen Teil neue Rechner. So konnten die Mitarbeiter aus der Tagesklinik die Patienten alle per Video nachbetreuen. Wir haben jeden Tag Kontakt zu den Familien gehabt. Dabei wussten wir damals gar nicht, ob das bezahlt wird oder nicht. Es gab ja dann den Rettungsschirm und wir haben Geld für die Behandlungen bekommen, aber zuerst sind wir in Vorleistung gegangen. Ich kenne andere Kliniken, die ihre Mitarbeiter nach Hause geschickt haben, bis der Rettungsschirm kam. Aber so saßen unsere Mitarbeiter nicht zu Hause, ohne zu wissen, ob sie wirtschaftlich über die Runden kommen. Dadurch hatten wir viel weniger Unruhe. Natürlich haben wir dabei ein bisschen gepokert, gebe ich zu, es hätte auch in die Hose gehen können, weil wir nicht wussten, ob eine Video-gestützte-Betreuung der Familien anerkannt wird oder nicht.
Wir hatten plötzlich ganz viel mit uns selbst zu tun, außerdem mussten Hygienekonzepte aus dem Boden gestampft werden. Dadurch, dass wir weniger Patienten hatten, ging das auch. Wir hatten ja dann den Rettungsschirm und konnten uns schulen wie man Vollschutz anlegt, wie man mit Corona-Positiven Patienten umgeht. Es gab dann viele Katastrophenszenarien, auf die man vorbereitet sein musste. Diese Kelche sind eigentlich an uns vorübergegangen, weil wir relativ schnell die Standardkonzepte umgesetzt haben. Im Grunde ist mir nur ein einziger Fall bekannt, wo sich ein Mitarbeiter am Patienten angesteckt hat, sonst haben wir keine Übertragungswege gehabt. Auch bei den Impfaktionen gab es eine hohe Bereitschaft dank viel Aufklärungsarbeit, sodass man dann mehr oder weniger in eine Routinephase kam, bis dann auch die Patienten wiederkamen.
Friedrichs: Wie hat sich die Patientenstruktur geändert?
Dr. Dammann: Wir hatten eine Art „Post-Corona-Effekt“ hier. Den haben wir aber auch Bundesweit erlebt, glaube ich, das sehen wir bis heute. Dabei geht es nicht allein darum, dass die Notfälle ein bisschen zugenommen haben. Das ist eine Tendenz der ganzen letzten Jahre gewesen. Aber was uns aufgefallen ist, dass die Schweregrade sehr stark zugenommen haben. Wir haben Patienten mit komorbiden und bunten Diagnosen gehabt, die fast nicht oder sehr schwer entlassbar waren.
Friedrichs: Entlassbar?
Dr. Dammann: Ja, entlassbar. Normalerweise macht man eine Krisenintervention, dann gehen die Patienten wieder oder man macht eine klassische stationäre Behandlung, aber wir haben jetzt gemerkt, dass Patienten einfach mehr mitbringen, also nicht nur mehr Diagnosen, sondern eben auch mehr Schweregrade. Ich bin da sehr gespannt auf die Statistiken. Und wir haben sehr deutlich greifen können, dass es eine spezielle Gruppe an Kindern und Jugendlichen gibt, die besonders unter Corona gelitten haben. Das sind aus unserer Sicht vorrangig Kinder, die sich selbst schwer organisieren können, Autisten oder Patienten mit ADS, diese ganzen angeborenen Dinge, die Probleme bei der Selbstorganisation machen. Und dann gibt es so Additionseffekte, bei denen sehen wir, immer dann wenn die Ressourcen in der Familien die Kinder zu beaufsichtigen dünn waren, wie sich die Störungsbilder kumuliert haben.
Der GAU für uns ist ein autistisches Kind, das alleine Zuhause sitzt, die Mama schon wieder arbeiten muss fürs Geld, das Kind aber noch Home-Schooling hat. Und dann vor irgendeinem Internetzugang sitzt mit der Aufgabe „Besorg dir mal die Hausaufgaben“, denn die Mama kommt abends um 17 Uhr nach Hause. Das sind die Verlierer der Coronazeit! Diese Kinder haben den Anschluss nicht gekriegt. Dazu gibt es auch sehr interessante Studien. Die Bedarfe an Hilfen haben einfach zugenommen.
Friedrichs: Auch außerhalb des Klinikkontextes hat der Bedarf zugenommen?
Dr. Dammann: Ja, natürlich. Wir haben eine für mich greifbare Zunahme an Jugendhilfeentwicklungen. Aber da habe ich keine Zahlen zu, denn das validieren wir ja nicht. Ich könnte jetzt nicht sagen, wie viele Kinder wir in die stationäre Jugendhilfe empfohlen haben, prozentual vor zehn Jahren, fünf und heute. Wir können Diagnosen nennen, da habe ich auch Statistiken zu, aber selbst bei den Diagnosen habe ich die Schweregrade nicht. Deswegen bleibt da viel beim Gefühl. Aber es ist eben schon so, dass wir den Eindruck haben, dass es eine größere Gruppe an Kindern und Jugendlichen gibt, die immer noch scheitern. Dazu zählen auch die sozialen Ängste mit schulvermeidendem Verhalten, insbesondere bei relativ „alten“ Kindern. Um mal eine Größenordnung zu nennen: Die Kinder sind in der Regel schon ein halbes Jahr nicht in der Schule, bevor sie bei uns aufschlagen. Das ist eine Katastrophe. Wir müssten eigentlich viel schneller sein, sind wir aber aus vielen Gründen nicht. Das liegt auch an den Kapazitäten, die wir haben. Wir haben jetzt ganz viel umgebaut und machen es jetzt so, dass im Moment jeder innerhalb von sechs Wochen einen Beratungstermin in der Ambulanz bekommt. Das funktioniert auch eigentlich ganz gut, aber für die Schulvermeider ist das trotzdem zu langsam. Wir haben teilweise Jugendliche, die sind seit ein, zwei, teilweise drei Jahre nicht in der Schule gewesen und die bekommen wir extrem schwer integriert. Und da muss ich sagen, da sind relativ viele bei, die scheitern werden. Das muss man so sagen, bei aller Liebe und Professionalität. Wir werden nicht alle retten können, aber wir versuchen es gemeinsam in den Systemen. Aber dadurch sehen wir natürlich eine Chronifizierung, bei denen ich auch den Eindruck habe, die werden mehr. Und damit haben wir die Bandbreite voll: Wir haben chronifiziertere Verläufe, höhere Schweregrade und mehr Komorbidität.
Friedrichs: Was ist das besondere an der Strategie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Holzminden?
Dr. Dammann: Ach, da muss ich sagen, die Art und Weise haben wir in Holzminden nicht erfunden, das machen andere Kliniken auch, aber ich glaube, wir leben es nur recht gut. Uns ist es sehr wichtig, die Familien mit einzubeziehen, grob gesagt, die Eltern zu Co-Therapeuten zu machen und zu befähigen, ihre Kinder zu führen. Wie kriege ich Krisen hin? Wie kriege ich Alltag hin? Wie kriege ich auch mal Belastungen hin, ohne einen Therapeuten oder eine Klink zu brauchen? Das ist, glaube ich, schon der Versuch, von dem ich auch persönlich überzeugt bin. Weil ich glaube, dass wir da in der Vergangenheit zu institutionalisiert drangegangen sind. Die Frage ist: Was können wir therapeutisch zu einer gelingenden Eltern-Kind-Interaktion beitragen? Dem wohl mächtigsten und nachhaltigsten Instrument, was wir zur Verfügung haben.
Friedrichs: Nehmt ihr etwas aus der Pandemie mit?
Dr. Dammann: Corona war eine Lebenserfahrung, auch für eine Klinik. Wir haben es sowohl fachlich als auch wirtschaftlich ganz gut überstanden, glaube ich. Und wir haben daraus gelernt. Wir haben heute noch mehr Masken herumliegen als jemals zuvor. Ich glaube, was bleiben wird, ist, dass wir bei den nächsten Infekten, sei es vielleicht ein Norovirus mit Magen-Darm, schneller und mit weniger Hemmungen zu Handschuhen und Masken greifen, als wir es früher getan haben. Das sind vielleicht ein paar positive Randeffekte. Aber ansonsten muss ich gestehen, ist eine Pandemie sowas von Sau überflüssig!
Friedrichs: Was können wir als Gesellschaft aus der Pandemie lernen und mitnehmen?
Dr. Dammann: Für eine neue Pandemie? Hoffentlich nicht! Aber wenn, dann nicht unbedingt nach der Systemrelevanz der Eltern schauen, sondern auch auf die Betreuungsbedürftigkeit der Kinder. Als Beispiel: Wenn ich einen Gymnasiasten habe, der super gut selbst organisiert arbeiten kann, dann ist es völlig egal, was die Eltern arbeiten, den kann ich alleine zu Hause lassen. Wenn ich ein Kind mit ADS habe und der Vater ist Professor, ist das völlig egal, das Kind braucht Betreuung. Für den muss man die Schule einrichten, oder für den Autisten, damit er seinen Rhythmus und seine Strukturen behält.
Friedrichs: Also mehr differenzieren? Nach Bedarf und nicht nach Gießkanne.
Dr. Dammann: Ja, nach Bedarf. Wobei, der Bedarf war ja da. Es wurde halt nach der Systemrelevanz der Eltern geschaut, das war der Bedarf. Das ist nur den Kindern nicht gerecht geworden. Aber im Nachhinein ist man immer klüger.
Friedrichs: Ich glaube, es gab Menschen, die darauf hingewiesen haben, es ist nur auf der politischen Ebene anders entschieden worden.
Dr. Dammann: Ja, ich kann das aber auch niemandem verdenken, es musste ja alles unfassbar schnell entschieden werden. Was macht man da? Man setzt sich hin und holt Expertenmeinungen ein. Und die haben damals natürlich den Fokus auf die Versorgungssicherheit der Bevölkerung gelegt, das war ja auch nicht schlecht. Hätten alle Krankenschwestern gesagt: „Ich habe ein Kind mit ADS zu Hause, ich bleibe zu Hause.“ Wäre das auch nicht gut gewesen. Nur den Preis haben tatsächlich die Kinder gezahlt. Wenn wir vorher gewusst hätten, wie groß der Preis war, dann hätte man es steuern können. Wobei ich schon glaube, dass man das hinkriegen könnte. Man müsste einen Algorithmus erarbeiten, da kommen dann 20 Punkte rein. Und wenn ich dann einen Autisten habe, rutscht er im Bedarf nach Beschulung ganz nach oben. Man braucht dann eben Leute, die sich hinsetzen und sowas entwickeln.
Friedrichs: Und wenn es nur diese eine Sichtweise gäbe, wäre es sicher auch einfacher. Oder wenn wir grundsätzlich mehr den Fokus auf Kinder und aufs Erwachsenwerden legen würden, gäbe es sicher auch andere Entscheidungen. Aber vielleicht ist Deutschland auch noch nicht das kinderfreundlichste Land, was man sich vorstellen kann.
Ich bedanke mich sehr bei Dr. Dammann und den Kollegen, mit denen ich dort in Holzminden sprechen konnte. Danke, dass Sie sich alle die Zeit genommen haben.
(Hinweis zur Transkription: Dieses Gespräch wurde am 21.09.2023 in Holzminden geführt und im Nachgang sorgfältig transkribiert und lektoriert, um eine klare und verständliche Darstellung zu gewährleisten. Einige Passagen wurden jedoch gekürzt oder angepasst, um die Lesbarkeit zu verbessern, ohne den inhaltlichen Zusammenhang zu beeinträchtigen.)
Eindrücke aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Holzminden