SYSTEMSPRENGER – INTERVIEW MIT PROF. DR. MENNO BAUMANN
Systemsprenger
Interview mit Prof. Dr. Menno Baumann
“Das Gegenteil von Scheitern in der Jugendhilfe ist nicht der Erfolg. Sondern das Gegenteil ist: Handlungsfähig bleiben.”
Laut, unberechenbar, wild
Egal ob Pflegefamilien, Wohngruppe oder Schule, die neunjährige Benni fliegt sofort wieder raus. Kinder wie Benni werden Systemsprenger genannt. Laut, unberechenbar, wild – wenn Benni wütend wird gibt es für sie kein Halten mehr. Dabei will sie doch nur Liebe, Geborgenheit und wieder bei ihrer Mutter sein.
Der Ende 2019 erschienene Film Systemsprenger hatte großen Erfolg bei Kritiker:innen und beim Publikum. 2020 gewann das Sozialdrama eine Reihe von deutschen sowie internationalen Film- und Festivalpreisen. Die junge Hauptdarstellerin, Helena Zengel, wurde für ihre herausragende schauspielerische Leistung gelobt. Dass das Thema nach wie vor brandaktuell ist zeigt, dass auch in diesem Jahr mehrere Dokumentationen und Reportagen erschienen sind, die hinterfragen warum Kinder und Jugendliche durch das Raster des Hilfesystems fallen.
Systemsprenger – ein umstrittener Begriff
Der umstrittene Begriff Systemsprenger soll eben diese Kinder und Jugendliche beschreiben — Kinder die das Hilfesystem nicht auffangen kann.
Wir haben mit dem Mann gesprochen, der in Deutschland wohl wie kein Zweiter für die Forschung zu Systemsprengern steht: Prof. Dr. Menno Baumann. Menno Baumann arbeitet als Professor für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule hier in Düsseldorf und als Bereichsleiter und Fachberater im Leinerstift. Darüber hinaus hat er mehrere Bücher über „Kinder, die Systeme sprengen“ geschrieben und die Regisseurin Nora Fingscheidt für ihren Spielfilm Systemsprenger beraten.
Guten Tag und vielen Dank, dass Sie sich für dieses Treffen Zeit nehmen.
Woher kommt der Begriff Systemsprenger? Und wer soll damit beschrieben werden?
Prof. Dr. Menno Baumann:
Ganz genau lässt sich die Quelle nicht ausmachen. Das erste Mal habe ich ihn in einem Text von Dr. Mathias Schwabe gelesen, der wiederum glaubt steif und fest, dass er ihn bei mir gefunden hätte. Das kann aber nicht sein, sein Text ist älter als meine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Es ist ein Begriff, der in den 90er Jahren schonmal unterwegs war. Im Grunde genommen ist es ein Praxisbegriff, wissenschaftlich wurde er deutlich später aufgegriffen. Ich wollte ihn eigentlich auch gar nicht haben – meine Studie hieß: Kinder die Systeme sprengen. Der freie Fortbildungsmarkt hat erbarmungslos den Systemsprenger daraus gemacht.
Was bezeichnet das Wort Systemsprenger? Also, aus meiner Sicht ist Systemsprenger nicht die Bezeichnung für ein Kind oder einen Jugendlichen, das bestimmte Eigenschaften hat, sondern für das Prozessgeschehen. Der Kinder- und Jugendhilfe gelingt es nicht mit einem jungen Menschen ein Angebotsformat zu finden, dass von allen Beteiligten als hilfreich angesehen wird.
Das Erste ist: Ich würde diesen Begriff niemals gendern, weil dieser Begriff immer in der Mehrzahl steht. Auch der Film zeigt nicht eine Systemsprengerin, sondern er zeigt eine ganze Reihe von Systemsprengern. Und das Zweite ist: Eigentlich finde ich die Prozessdynamik viel spannender. Ich werde oft gefragt — und dann wird mir der Lebenslauf eines jungen Menschen gezeigt — „Ist das jetzt ein Systemsprenger?“. Und dann sage ich immer: „Das weiß ich nicht, weil ich kenn SIE ja gar nicht.“. Es hängt sehr stark vom System ab. Und das ist im Grunde genommen das Kernmerkmal der jungen Menschen die in der Systemsprenger-Diskussion aufgeführt werden, dass sie so viele Abbrüche erleben. Und zwar Abbrüche die mit ihrem Verhalten begründet werden. Ob das Verhalten ursächlich für das Abbrechen ist, das sei nochmal dahingestellt, aber es wird begründet über ihr Verhalten. Wer dann zum Systemsprenger wird hängt mindestens genauso vom System ab wie vom jungen Menschen selbst.
Sie sagen, dass Sie unglücklich mit dem Begriff Systemsprenger sind. Was macht den Begriff denn so problematisch?
Prof. Dr. Menno Baumann:
Also unglücklich bin ich damit nicht. Wir haben gar keine Alternative und darüber bin ich ganz froh. Ich will keinen politisch korrekten Begriff, der mir leicht über die Lippen kommt, für ein Phänomen, das nicht korrekt ist. Mir wird oft als Begriff Herausfordernde Jugendliche vorgeschlagen. Ja, davon habe ich auch drei Zuhause… Das hat aber nichts mit dem Thema zu tun über das wir gerade reden.
Wenn ich nicht jeden einzelnen Menschen als Herausforderung betrachte, dann bin ich im Erziehungskontext nicht mehr richtig. Was diesen Begriff problematisch macht, ist dass er natürlich erstmal den schwarzen Peter zum jungen Menschen schiebt. Und unter der Grundvorannahme, die wir immer erstmal treffen, das System sei gut, hat er natürlich auch was Negatives. In Wahrheit kann man natürlich darüber nachdenken, ob nicht Martin Luther King oder Dietrich Bonhoeffer Systemsprenger waren. Systeme sprengen ist ja nicht unbedingt was Negatives.
Wenn alle Kinder immer brav gewesen wären, dann würden wir ja heute noch mit 200 Schülern in einem Klassenraum alle zehn Jahrgangsstufen gleichzeitig unterrichten. Wir hätten immer noch Heime mit 160 Waisenkindern die von einem Pastor betreut werden. Zum Glück haben wir immer wieder an unseren Systemen arbeiten müssen. Und das haben uns auch die sogenannten Systemsprenger gezeigt. Dass wir jetzt gerade in der Pädagogik und in der Sozialen Arbeit eine zunehmende Individualisierung brauchen, dass zeigen uns diese jungen Menschen ganz deutlich. Aber der Begriff hat natürlich die große Gefahr, dass er negativ konnotiert wird und er hat die große Gefahr, dass er als Stigma erlebt wird.
Ich würde einem jungen Menschen gegenüber niemals sagen: „Du bist ein Systemsprenger“. Ich habe auch in meiner pädagogischen Praxis – ich habe jahrelang auch parallel zur Wissenschaft in der Jugendhilfe gearbeitet, bis heute – nie gesagt, dass ich mit Systemsprengern arbeite. Ich habe immer gesagt, dass ich an Strukturen, mit Systemen arbeite, damit die jungen Menschen sie nicht sprengen müssen.
Aber sprachlich unsensibel kann der Begriff natürlich auch was Stigmatisierendes haben.
Und wie viele Kinder werden nicht aufgefangen? Werden zu Systemsprengern?
Prof. Dr. Menno Baumann:
Das ist schwer zu zählen. Es gibt eine Untersuchung von Dr. Michael Macsenaere von IKJ (Ergänzung der Redaktion: Institut für Kinder- und Jugendhilfe) in Mainz, der hat einfach nur die Zahl der Abbrüche addiert – also immer, wenn es zu einem Abbruch kam. Vollstationäres Setting gibt 3 Punkte, intensivpädagogisches 4 Punkte, ambulantes 2 Punkte oder so. Und dann hat er gesagt, jeder der mehr als 10 Punkte hat ist ein Systemsprenger. Unter der Voraussetzung kommt er auf etwa 17% des Jugendhilfeklientels, die häufigen Wechsel haben.
Ich zweifle die Methodik ein bisschen an, denn es gibt viele Gründe für Wechsel, die nicht unbedingt etwas mit dem Kind oder Jugendlichen und seinem Verhalten zu tun haben.
Die Untersuchung, die wir durchgeführt haben, sagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Heimplatz innerhalb von zwei Jahren mit einem Jugendlichen belegt wird den er nicht halten kann, liegt bei 14%. Das ist natürlich ein sehr abstrakter Wert. Wenn ich das runterbreche auf die Größenordnung der Kinder- und Jugendhilfe bin ich bei etwa 5–8 % des Jugendhilfeklientels, die aufgrund ihres Verhaltens einen längeren Zeitraum haben, in dem sie nicht gehalten werden können.
Benni, die Hauptfigur im Spielfilm Systemsprenger ist ein neunjähriges Mädchen und damit noch vor der Pubertät. Gibt es ein Alter in dem Kinder oder Jugendliche besonders gefährdet sind aus dem Raster zu fallen?
Prof. Dr. Menno Baumann:
Wenig überraschend ist, dass die Altersgruppe der 13–16 jährigen den mit Abstand größten Block darstellt. Interessanterweise, wenn man sich anguckt was in der Intensivpädagogik zurzeit los ist, sind da eher die Kleineren unterwegs. Das hat aber eher was mit der Logik des Systems zu tun. Wir akzeptieren bei einem 16 jährigen eher, dass er auf die Straße geht und machen kein Angebot mehr – die sind dann schon aus allem rausgeglitten. Während wir bei den Kleinen noch mehr in die Vollen gehen.
Als ich damals meinen ersten Bereich für Intensivpädagogik aufgemacht habe, dachte ich auch ich kriege jetzt 15, 16, 17 jährige und ich hatte lauter Anfragen für 11, 12, 13 jährige – und das ist prototypisch. Die Bereitschaft des Jugendhilfesystems ist eher bei den Kleineren größer als bei den Älteren hier nochmal zu investieren und Geld in die Hand zu nehmen und nochmal alles zugeben.
Aber natürlich, der größte Block – also fast die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen, die wir in unserer Studie gefunden haben – waren in der Altersgruppe der 13–16 jährigen. Dann haben wir die jungen Volljährigen, also 17 und drüber. Die jungen Erwachsenen sind der zweitgrößte Block. Und alles was davor ist, also Vorpubertät und Kindesalter ist die kleinere Gruppe. Aber innerhalb der Jugendhilfe eine sehr präsente Gruppe. Das sind die, die wirklich schnelle Abbrüche haben, schweren Herzens, wo wirklich die Suchen ewig lange dauern und die Jugendämter auch unter massivem Druck stehen. Weil ein 9 jähriger auf der Straße, das will wirklich keiner.
Wenn das System das Problem ist, was muss sich ihrer Meinung nach ändern?
Prof. Dr. Menno Baumann:
Im Grunde genommen erzählt der Film Systemsprenger aus meiner Sicht zwei Geschichten. Das eine ist die Geschichte von Überwältigung. Benni wird am Anfang dieses Films permanent überwältigt. Sowohl von der Jugendhilfe selber, dem System, als auch von anderen Jugendlichen. Sie ist permanenter Überwältigung ausgesetzt. Und dann kommt der Moment wo Micha sich traut mit ihr in Beziehung zu treten, ihren Aggressionen entgegenzutreten ohne sie zu überwältigen. Aber dann wird er überwältigt von den Emotionen, die das zutage fördert. Und das ist der eine große Punkt: Wir müssen in der Jugendhilfe viel, viel mehr in Mitarbeitersicherung, in emotionalen und psychologischen Support unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen investieren. Das muss der wesentliche Schwerpunkt sein, wir müssen ganz anders in die Fachberatung rein, ganz anders ins Coaching, um unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in ihrer psychischen Gesundheit und ihrer Belastbarkeit zu erhalten.
Der zweite große Punkt ist: Wir erleben im Film ein großes Team von Menschen, die alle unglaublich engagiert auf der Suche nach einer Lösung sind, nur haben sie keine Ahnung wonach sie suchen. Alles was an Vorschlägen im Raum steht wird nur noch diskutiert: „Hatten wir das schon?“ – „Geht das überhaupt?“. Es stellt sich keiner mehr die Frage: „Was braucht Benni?“.
Mein Ansatz in der Jugendhilfe — ich nenne das immer meine Utopie für die Kinder- und Jugendhilfe — ist, dass wir stärker in die Regionalisierung zurück-müssen. Wir müssen diesen starken Import und Export in der Jugendhilfe beenden. Wir haben zum Beispiel in Schleswig-Holstein auf 6.500 Heimplätzen nur knapp 1000 34er Maßnahmen (Annahme der Redaktion: Stationäre Maßnahmen). Das heißt da sind 5.500 Kinder in Schleswig-Holstein die gar nicht aus Schleswig-Holstein kommen und die müssen ja irgendwo anders fehlen. Ich bin ein starker Vertreter zu sagen: Lasst uns den Import-/ Export-Wahnsinn beenden und lasst uns stärker in die Regionalisierung gehen, zumindest in der Verantwortung. Es kann Sinn machen ein Kind auch mal weiter weg unterzubringen, aber die Verantwortlichkeit muss in der Region bleiben. Dafür brauchen wir bessere Strukturen. Im Grunde genommen Trägerverbünde und Kooperationsstrukturen zwischen Jugendämtern und Jugendhilfeträgern, die gemeinsam nach kreativen, individualisierten Lösungen vor Ort suchen. Und diese dann auch umsetzen und — auf einer guten, verstehenden sozialpädagogischen Diagnostik — Lösungen entwickeln die tragfähig und flexibel sind, wenn dann mal wieder was Neues passiert.
Was können oder sollten Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtungen ändern/verbessern um Kindern wir Benni ein Zuhause geben zu können?
Prof. Dr. Menno Baumann:
Wir müssen an unseren Krisenstrukturen arbeiten, wir müssen endlich unser Verhältnis zur Kinder- und Jugendpsychiatrie klären, indem wir sagen: die Kernaussage der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist therapeutischer Support für die Heilung von Krankheiten und nicht die Steigerung, wenn Jugendhilfe überfordert ist. Wir müssen endlich unsere eigene Krisenfestigkeit ernst nehmen.
Wir brauchen eine sozialpädagogische Diagnostik und nicht immer nur Import: „Was sagen denn die Psychologen?“. Ich glaube das sind Aspekte bei denen wir viel an unserer eigenen Professionalität arbeiten könnten, um dann passgenaue, individualisierte, flexible Strukturen aufzubauen die dieser Mensch braucht. Wir brauchen nicht mehr Spezialangebote, die bestimmt Phänomene bearbeiten. Wir brauchen Pädagog:innen die bereit sind, sich auf diesen einen Menschen einzulassen der da vor ihnen steht. Wir brauchen mehr Individualität für den einzelnen Menschen.
Dieses Interview wurde am 12. Oktober 2021 zwischen Prof. Dr. Menno Baumann und Lisa Wilde von der LOOP Kinderhilfe via Internettelefonie geführt und im Nachhinein verschriftlicht.